Betrachten wir die Studie von Sheridan Reins et. al (2019), hat insbesondere Österreich Aufholbedarf, um Zwangskontexte zu reduzieren. Im Vergleich von 22 europäischen Ländern, Australien und Neuseeland ist Österreich jenes Land mit den meisten Unterbringungen pro 100.000 Einwohner_innen. Die Implementierung der S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“ (DGPPN, 2018) in psychiatrische Stationen zeigt effektive Lösungen, den Anforderungen des Unterbringungsgesetz gerecht zu werden, welches einfordert, alle Mittel auszuschöpfen, um Zwangsmaßnahmen zu reduzieren. Expertenkonsens und Evidenz haben in der psychiatrischen Versorgung höchste Priorität, insbesondere bei ethisch sensiblen Themen wie Zwang.
Die Transparente Psychiatrie fordert für Österreich die Implementierungsschritte der PreVCo-Studie (2024) ein, um ein „state oft the art“ gerechtes psychiatrisches Arbeiten zu gewährleisten.
Empfehlungen für psychiatrische Stationen (12 Punkte-Programm)
- Führen Sie eine standardisierte Erfassung von Zwangsmaßnahmen und aggressiven Übergriffen mit Möglichkeit der regelmäßigen Evaluation auf Stationsebene ein
- Führen Sie interne, an die Vorgaben der Leitlinie adaptierte Standards bezüglich der Indikation, Durchführung, Überprüfung, Dokumentation und Nachbesprechung von Zwangsmaß-nahmen ein oder überprüfen Sie ggf. vorhandene Standards
- Führen Sie eine monatliche Teambesprechung, geleitet von der Abteilungs- oder Stations-leitung, ein, in der die Daten zu Zwangsmaßnahmen und aggressiven Vorfällen analysiert und die Hintergründe besprochen werden
- Führen Sie einen Schulungsplan für alle Beschäftigten mit Patient*innenkontakt in Deeskalation/Aggressionsmanagement ein und stellen Sie sicher, dass alle Beschäftigten mindestens einmal in zwei Jahren eine entsprechende Schulung erhalten
- Stellen Sie sicher, dass bei freiheitsbeschränkenden/-entziehenden Zwangsmaßnahmen (Fixierung, Isolierungen) eine kontinuierliche persönliche Betreuung stattfindet
- Stellen Sie sicher, dass Nachbesprechungen nach Zwangsmaßnahmen mit den betroffenen Patient*innen verbindlich stattfinden und dokumentiert werden
- Beschäftigen oder beteiligen Sie Genesungsbegleiter*innen auf der Station
- Erstellen Sie einen Aktionsplan für die aggressionsmindernde Gestaltung der räumlichen Umgebung auf der Station und überprüfen Sie diesen jährlich
- Führen Sie eine Risikoerkennung mit der Brøset Violence Checklist (BVC) oder einem anderen Instrument bei allen Risikopatient*innen nach klinischer Einschätzung ein und stellen Sie sicher, dass daraus auch klinische Konsequenzen erfolgen, z.B. bei Punktwerten ab BVC 2 eine Kontaktaufnahme mit der/dem Patientin/Patienten zur Deeskalation innerhalb einer halben Stunde durch in der Regel mindestens zwei Personen
- Empfehlen Sie allen Patient*innen nach der Durchführung einer Zwangsmaßnahme die Erstellung einer Patientenverfügung oder bieten Sie ihnen eine Behandlungsvereinbarung zur Verhinderung weiterer Zwangsmaßnahmen an
- Führen Sie Maßnahmen zur Sicherstellung einer leitliniengerechten Pharmakotherapie ein (orientiert an der S3-Leitlinie in Bezug auf aggressives Verhalten, aber auch den störungsspe-zifischen anderen S3-Leitlinien zur „leitliniengerechte Behandlung der Grunderkrankung“), z.B. einmal monatliche Überprüfung in Zufallsstichproben oder regelhafte Besprechung im Rahmen von Visiten
- Führen Sie Safewards oder andere komplexe Interventionen, die in einzelne Module operationalisierbar sind, ein
Literatur:
DGPPN, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (2018): S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“. Berlin, Heidelberg. Online unter https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/154528053e2d1464d9788c0b2d298ee4a9d1cca3/S3%20LL%20Verhinderung%20von%20Zwang%20LANG%2BLITERATUR%20FINAL%2010.9.2018.pdf abgerufen am 26.04.2024
PreVCo Studie (2024). Empfehlungen für psychiatrische Stationen (12 Punkte-Programm). Online unter: https://www.prevco.de/Prevco/12punkte.pdf abgerufen am 26.04.2024
Sheridan Rains, L., Zenina, T., Dias, M. C., Jones, R., Jeffreys, S., Branthonne-Foster, S., Lloyd-Evans, B., & Johnson, S. (2019). Variations in patterns of involuntary hospitalisation and in legal frameworks: an international comparative study. The lancet. Psychiatry, 6(5), 403–417. https://doi.org/10.1016/S2215-0366(19)30090-2